1990
Scorpions

Wind of Change

WIND OF CHANGE thematisiert das Ende des Kalten Krieges und ist bisher der einziger Nr. 1 Charterfolg der Scorpions in Deutschland, obwohl diese international die erfolgreichste deutsche Band sind. WIND OF CHANGE vom Album Crazy World markiert das Ende der “klassischen Besetzung” mit Bassist Francis Buchholz und den Gipfel des Erfolgs der Band.

I. Entstehungsgeschichte

Die Scorpions bestanden seit Mitte der 60er Jahre in verschiedenen Besetzungen um den Gitarristen Rudolf Schenker. Die Wahl eines deutsch wie englisch geläufigen Namens der damaligen Amateurcoverband spiegelt das von Anfang an erklärte Ziel des überregionalen Erfolgs wider. 1969 stieß Klaus Meine als Sänger zur Band, die seit dieser Zeit mehrheitlich ihre Songs selber schrieb. Binnen kurzer Zeit konnten sich die Scorpions zu einem der erfolgreichsten Hardrockacts überhaupt etablieren.

Einvernehmlich trennten sich die Scorpions und ihr langjähriger Wegbegleiter der Produzent Dieter Dierks nach der Zusammenarbeit an der Platte Savage Amusement im Jahr 1988. Unter dem Druck, ohne Dierks erfolgreich zu sein, entschied sich die Band erstmals nach 16 Jahren, die Produktion des kommenden Albums mit dem Arbeitstitel Restless Nights anteilig selbst in die Hand zu nehmen. Als Ko-Produzent wurde Bruce Fairbairn angefragt (Produzent u.a. von Bon Jovi, Aerosmith, AC/DC), der jedoch zu diesem Zeitpunkt ausgebucht war – aber gleichsam als Entschädigung 1993 mit den Scorpions Face the Heat produzierte. Dieser stellte den Kontakt zu Keith Olsen her (u.a. Whitesnake, Santana, Ozzy Osborn, Starship, Rick Springfield), welcher nicht nur die selbstgedichteten Texte grammatikalisch so unbefriedigend fand, dass er sie zum Überarbeiten an Jim Vallance übergab, sondern auch den relativ glatten Sound der letzten Scorpionsplatten wieder mehr in Richtung Rock und Metal profilierte. Im Laufe der Produktion, die 1,5 Millionen DM kostete, wies Schlagzeuger Rarebell auf eine öffentliche Äußerung von George Bush Senior hin. Bezüglich der weltpolitischen Umbrüche des Jahres 1990 hatte dieser geäußert: “You have to realize, we live in a crazy world.” Die letzten zwei Worte sollten Titelgebend werden für das elfte Studioalbum, Crazy World (VÖ 6.11.1990), für das Sänger Klaus Meine u.a. die Ballade WIND OF CHANGE schrieb.

Neben genretypischen Plattencovers fällt bei den Scorpions auf, dass sie immer wieder mit renommierten Künstlern bei der Covergestaltung zusammenarbeiteten, so auch im Fall von Crazy World mit den Fotografen Ross Halfin, Richard Evans und Wanelle Fitch.

II. Kontext

Die Scorpions waren nach Uriah Heep die zweite Band aus dem nichtsozialistischen Ausland, die 1988 in der Sowjetunion auftreten durften. Die Eindrücke des Moscow Music Peace Festivals, bei dem die Scorpions im August 1989 mit anderen Größen der Rockmusik an zwei Abenden vor 260 Tausend Besuchern auftraten, verarbeitete Klaus Meine nach eigener Aussage im Song WIND OF CHANGE, der bis heute als Hymne vom Ende des Kalten Krieges gilt, welche die Band auch in einer spanischen und russischen Version veröffentlichte.

Es wirkt wie ein Sinnbild der Dialektik von Affirmation und Subversion wie sie aller Popmusik eignet, dass Michail Gorbatschow die Band als Geistesverwandte seiner Reformpolitik 1991 in den Kreml einlud – just wenige Tage vor dem Untergang der Sowjetunion. Den nicht intendierten Zusammenhang des Songs mit dem Fall der Berliner Mauer legte zum einen der Gastauftritt mit WIND OF CHANGE bei Roger Waters Rockspektakel The Wall 1990 (s. “Another Brick in the Wall“) auf dem Berliner Mauerstreifen nahe. Zum anderen unterstreicht das offizielle Musikvideo diese Lesart. Das Video besteht aus (möglicherweise nachgestellten) Konzertmitschnitten, die mit dokumentarischem Material – im Wesentlichen aus Nachrichtensendungen – abwechseln. Den roten Faden der Narration stellt der Aufstieg und Fall der DDR am Beispiel des Potsdamer Platzes in Berlin dar. In Dokumentaraufnahmen, unter denen Ort und Zeit eingeblendet erscheinen, ist der Potsdamer Platz am 17. Juni 1953 (am Tag des Volksaufstandes) mit Panzern der Roten Armee, am 13. August 1961 während des Baus der Berliner Mauer und 1990 im Augenblick des Niederreißens der Pappmauer zum Finale von The Wall zu sehen. Neben der Versinnbildlichung des Kalten Krieges in der Frontstadt Berlin und dem Beitrag der Rockmusik bei seiner Beendigung verweisen die Dokumentarfilmausschnitte, aus denen das Video montiert ist, auf die heißen Stellvertreterkriege in der sogenannten Dritten Welt, aber auch auf die Bürgerkriege sowie humanitären und Umweltkatastrophen (Exon Valdez) aus der Ära des Kalten Krieges.

Am Beispiel der Scorpions und WIND OF CHANGE wird grundsätzlich deutlich, dass Rockmusik als Segment von Pop- bzw. Konsumkultur nicht unwesentlich daran beteiligt war, dass die jüngere Generation den realsozialistischen Regimen zusehends die Gefolgschaft verweigerte. Zugleich brach mit dem Ende des Kalten Krieges die unausgesprochene Legitimation von Rockmusik und ihrer Darbietung als Feier des “Freien Westens” weg. Dieser Prozess wurde verzögert, da sich mit der Öffnung der Grenzen des ehemaligen Ostblocks dem tendenziell stagnierenden Rock-n-Roll Circus um 1990 neue Märkte boten, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass möglicherweise genau wie der Kalte Krieg die Supergroups und Megakonzerte Geschichte sind.

III. Analyse

WIND OF CHANGE kann als paradigmatische Powerballade gelten. Das musikalisch auffälligste Merkmal sind die gepfiffenen Soli von Klaus Meine, die neben Monthy Pytons “Always Look on the Bright Side of Life” ein seltenes Beispiel für das Wiederaufleben des Kunstpfeifens in der Rock- und Popmusik sind. Die ausgewogene Form von Intro, Strophe, Refrain, Bridge, Solo und Extro geht einher mit makellos geführten melodischen Spannungsbögen auf einen überaus sangbaren Text.

Über dem harmonischen Pendeln zwischen erster und zweiter Stufe in Dur verdichtet sich die schrittweise ansteigende Gesangsmelodie aus einer Art Parlando zu Beginn zum Hymnisch-Inbrünstigen des Refrains. Dieser basiert auf einer klassischen I-II-V Kadenz und hebt sich die Einführung der Dursubdominate als besonderer Farbe bis zur letzten Zeile auf. Nach dem zweiten (Doppel-) Refrain folgt eine Bridge in der parallelen Molltonart, die zur Überleitung zum Gitarrensolo mit der V. Stufe bekräftigt wird.

Der Gefahr des Stampfens oder Leierns tritt das Arrangement in der Rhythmusgitarre mit einer gleichsam schwebenden Begleitung der Single-Coil-Gitarre entgegen, welche die Akkorde mit mehrfachen Vorhaltsbildungen (Pluckings) spielt.

Der englische Text wirkt allein schon durch seine russischen Wörter exotisch: Balalaika, Moskwa und Gorki-Park. Er erzählt, wie das lyrische Ich einen Spaziergang an der Moskwa entlang zum Gorki-Park unternimmt und den in der Luft liegenden politischen Wandel als “Wind of Change” hören kann. Vom individuellen Erleben des Wandels über die vorbeiziehenden Soldaten, denen es ebenso geht, bis hin zu einer ganzen jungen Generation, gepaart mit dem Staunen, dass man das noch erleben darf, spannt sich die perspektivische Steigerung des Textes. Reichlich visionär ist von einem grundlegenden Umdenken die Rede und etwas blumig von einer Freiheitsglocke, die durch jenen stürmischen Wind des Wandels bewegt einen wie auch immer gearteten Seelenfrieden einläutet.

Die Zeile “Let your balalaika sing what my guitar wants to say” fungiert als Schnittstelle zwischen der Narration des Textes und dem musikalischen Verlauf zwischen Bridge und Solo. Das Solo setzt die formal-melodische Ausgewogenheit des Songwriting fort.

IV. Rezeption

WIND OF CHANGE führte in 11 Ländern die Charts an und war die weltweit erfolgreichste Single des Jahres 1991. Die im Februar ausgekoppelte Single verkaufte sich mindestens 9 Mal und das Album 16 Millionen Mal. Auf der Crazy-World-Welttournee absolvierte die Band fast 150 Konzerte binnen eines Jahres. Jose Carreras nahm WIND OF CHANGE gemeinsam mit Meine für sein Album Around the World auf. Ferner coverten Gregorian und der Flötist James Galway das Stück. Zum zehnjährigen Jubiläum des Mauerfalls im Jahr 1999 spielten die Scorpions WIND OF CHANGE begleitet von 166 Cellisten unter dem Dirigat von M. Rostropovitsch vor dem Brandenburger Tor. In der ZDF-Sendung Unsere Besten wurde der Song 2005 zum “Jahrhunderthit” gekürt. Für 2012 hat die Band einen Rückzug “in Würde” angekündigt. Ironischerweise heißt das “Abschiedsalbum” Comeback.

MATTHIAS TISCHER


Credits

Gesang: Klaus Meine, Rudolf Schenker
Gitarre: Rudolf Schenker, Matthias Jabs
Bass: Francis Buchholz
Schlagzeug: Rarebell
Keyboards (Studiomusiker), Jim Vallance und Koen VanBaal
Text und Musik: Klaus Meine
Produzenten: Keith Olson mit Scorpions
Aufnahme: Sommer, Herbst 1990
Veröffentlichung: 6.11.1990
Länge: 5:10

Recordings

  • Scorpions. “Wind of Change”, Crazy World, 1990, Mercury, 846908-2, Europa (CD/Album).
  • Scorpions. “Wind of Change”, Wind of Change, 1990, Mercury, 878832-7, Deutschland (7″/Single).
  • Scorpions. “Wind of Change”, Wind of Change, 1990, Vertigo, VERCD58, UK (CD/Maxi).
  • Scorpions. “Wind of Change”, Wind of Change, 1990, Mercury, 866265-1, USA (12″/Maxi).

Covers

  • James Galway. “Wind of Change”, Wind of Change, 1994, RCA, 62700, Europa (CD/Album).
  • Boppin’ B. “Wind of Change”, Hits, 1994, Mikado Records, MK 94-208, Deutschland (CD/Album).
  • José Carreras. “Wind of Change”, Around the World, 2001, Warner Classics International, 485613, Deutschland (CD/Album).
  • Gregorian Chants. “Wind of Change”, Rock Ballads, 2003, Elap Music, 50020132, Dänemark (CD/Album).

Links

Artist homepage: http://www.the-scorpions.com/german/ [08.02.2012].

About the Author

Matthias Tischer (Prof. Dr. habil.) teaches Social Work, Esthetics and Communication with focus on Culture and Music at the University of Applied Sciences Neubrandenburg.
All contributions by Matthias Tischer

Citation

Matthias Tischer: “Wind of Change (The Scorpions)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/windofchange, 12/2011 [revised 10/2013].

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