1982
Stern Meißen

El Salvador

EL SALVADOR ist ein Song der Gruppe Stern Meißen, der den von 1980 bis 1991 ausgetragenen Bürgerkrieg in dem zentralamerikanischen Land thematisiert.

I. Entstehungsgeschichte

Der genaue Entstehungszeitraum des Liedes EL SALVADOR ist unbekannt. Erstveröffentlicht wurde es 1982 auf dem Amiga-Sampler Rock für den Frieden als Aufnahme des gleichnamigen Musikfestivals vom 8. bis 10. Januar 1982 im Berliner Kulturpalast. “Rock für den Frieden” war ein von der FDJ und dem Komitee für Unterhaltungskunst der DDR veranstaltetes mehrtägiges Musikfestival, das von 1982 bis 1987 ausgetragen wurde. Wenige Monate später erschien das Lied in einer Studioversion auf dem Album Stundenschlag der Gruppe Stern Meißen. Es wurde – und dies stellt im Repertoire der Gruppe eine Ausnahme dar – von Peter Rasym, dem damaligen Bassisten, komponiert. Für das Arrangement zeichnet die gesamte Band verantwortlich.

Der Liedtext stammt von Kurt Demmler, dem bekanntesten und erfolgreichsten Liedtexter der DDR. Ihm wurde nachgesagt, dass er es wie kein Anderer verstand, die Zensurinstanzen der DDR zu umgehen. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre engagierte er sich zudem vermehrt für die Freiheit der Medien. Es ist zwar nicht bekannt, ob die veröffentlichte Version von Text und Musik die Originalversion oder eine Überarbeitung darstellt, dennoch ist es bemerkenswert, dass ein Text, der durchaus subversiv aufgefasst werden kann, in dieser Form veröffentlicht wurde. Gemäß seiner Herkunft und dem Entstehungszeitraum wird der Titel EL SALVADOR heute dem Genre des Ostrock zugeordnet.

II. Kontext

Der weltgeschichtliche Entstehungskontext des Liedes EL SALVADOR ist durch die Zeit des Kalten Krieges gekennzeichnet. Im mittelamerikanischen El Salvador tobte von 1980 bis 1991 ein Bürgerkrieg, in dem sich die mehrheitlich linke und teilweise kommunistisch orientierte – und daher von der Sowjetunion und von Kuba unterstützte – Guerillaorganisation FMLN und eine von den USA unterstützte Militärdiktatur bekämpften. Der salvadorianische Konflikt war daher ein Stellvertreter-Bürgerkrieg. Dieser Bürgerkrieg und die daraus resultierende anhaltende Medienpräsenz El Salvadors in den Nachrichten der DDR werden im Lied thematisiert. Es mag anfangs verwundern, warum eine Gruppe aus der DDR ein Lied über ein so weit entferntes, ‘kleines’ und exotisches Land wie El Salvador herausbringt. Mit dem Wissen, dass die DDR sich politisch zugunsten der linken Guerilla engagierte, indem sie salvadorianische ‘Patrioten’ (linke Guerilla) durch kostenlose medizinische Behandlungen unterstützte, wird die beabsichtigte politische Botschaft des Liedes jedoch deutlich: Der Hörer soll sich mit der kommunistischen Freiheitsbewegung El Salvadors solidarisieren. Auch der Kontext der Erstaufführung im Rahmen des Festivals “Rock für den Frieden” bekräftigt diese Botschaft. Damit reiht sich der Titel in eine Vielzahl von prokommunistischen und prosozialistischen Liedern der damaligen Zeit ein, in denen auf politisch ähnlich positionierte lateinamerikanische Länder, allen voran Chile und Kuba, Bezug genommen wird.

III. Analyse

Die textliche Analyse des Liedes ermöglicht zwei Hauptinterpretationen. Die Erste bezieht sich auf den Konflikt in El Salvador, die Zweite auf die DDR selbst. Zu Beginn des Liedes wird das Land El Salvador als inhaltliches Thema etabliert und auf dessen Unbekanntheit in der Welt verwiesen (“Auf der Karte ist es ein ganz kleines Land”; “Hast du früher dieses kleine Land gekannt?”). Danach folgt die vom Erzähler als intensiv und plötzlich omnipräsent geschilderte Berichterstattung über den Konflikt in El Salvador (“Plötzlich dieser Schrei / Ein Namen in Verbreitung / Keine Nachricht geht vorbei / Ohne ihn und keine Zeitung”). Die Metapher “Schrei” legt nahe, dass es sich um ein besonders aufsehenerregendes Ereignis handelt. Dies könnte die Ermordung des salvadorianischen Bischofs Oscar Romero im März 1980 gewesen sein, die zugleich den Beginn des Bürgerkriegs markierte. Andererseits kam es im Dezember 1981 in El Mozote zum größten Massaker des Bürgerkriegs mit etwa 900 Toten. Aufgrund der zeitlichen Nähe zur Erstaufführung des Liedes könnten sich auch dieses Ereignis und die damit verbundenen Schlagzeilen hinter dem “Schrei” verbergen. Im weiteren Verlauf verweist der Text auf die Anonymität der Todesopfer in der Berichterstattung der DDR (“und die Toten kommen nur als Zahlen her”) und schließt eine Ursachenattribuierung des Konflikts an: “Denn das Alte auf der Welt / Will sich halten, will sich halten / Und das Neue auf der Welt / Das will nicht mehr mit dem Alten”. Diese allgemein gehaltene Aussage erlaubt eine zweite Interpretation, die sich auf die DDR selbst bezieht und als Reformwunsch der ostdeutschen Jugend gelesen werden kann. Analog kann das später erwähnte “Gängelband”, von dem sich, laut Text, El Salvador losreißen möchte, als politische Kontrolle der USA in El Salvador oder als politische Beeinflussung der Sowjetunion in der DDR aufgefasst werden. Ebenfalls interessant ist die Textpassage “Oh El Salvador / Schlägt an’s Tor”, bei der man “Tor” metaphorisch als “die Mauer” (also den “antifaschistischen Schutzwall”) verstehen kann, wobei dies sogar besser auf die Situation in der DDR als auf jene in El Salvador passt.

Die Stimme des Sängers Reinhard Fißler befindet sich die meiste Zeit des Liedes in der Stereomitte, der refrainartige Charakter der häufig wiederholten Zeile “Oh El Salvador bricht auf” wird jedoch durch eine Panoramaverschiebung in den linken und rechten Kanal verstärkt. An diesen Stellen entsteht eine eindeutige Referenz zu zahlreichen kommunistischen Hymnen, wobei EL SALVADOR als Gesamtwerk jedoch aufgrund der beschriebenen sekundären Lesart keineswegs auf diese Interpretation reduziert werden sollte. Durch geschickte Textkonstruktion verbreitet der Song auf den ersten Blick eine politische Botschaft im Sinne der damaligen politischen Führung, er kann jedoch auch als genaues Gegenteil dessen gelesen werden.

Musikalisch stellt der Titel im Repertoire von Stern Meißen ein gemäßigtes Experiment dar: Zusätzlich zur Standardbesetzung (Gitarre, Bass, Schlagzeug, Keyboard) spielt mit Norbert Jäger ein zusätzlicher Percussionist mit. Wie zu Beginn der 1980er Jahre üblich, tauchen Synthesizerklänge auf, die klassischen Instrumente überwiegen jedoch eindeutig. Die Komposition weist Einflüsse aus Pop (Arrangement, Textzeilen mit Refraincharakter), Rock (verzerrtes Gitarrensolo), Jazz-Funk (prominente Slap-Bassline) und karibischer Musik (Steel-Drum-Imitation auf Synthesizer, Cowbells, diverse Perkussionsinstrumente) auf. Genretechnisch bewegt sich der Titel zwischen Pop, Rock und Fusion. Elemente der traditionellen Musik El Salvadors sind nicht enthalten, was jedoch dem damaligen Hörer nicht aufgefallen sein dürfte. Ganz im Gegenteil dürfte das Lied beim Hörer aus der DDR eine Karibisierung des El-Salvador-Bildes ausgelöst haben. Ob die Musiker sich des Konfliktes zwischen Titel und musikalischen Einflüssen bewusst waren, ist unbekannt. Der Titel endet in einem perkussionslastigen Part mit einem Fade-out, dessen Ursprung (künstlerisch, technisch oder zensorisch) ebenfalls nicht ermittelt werden kann.

IV. Rezeption

Der Musikmarkt in der DDR war durch die Planwirtschaft nur bedingt nachfrageorientiert. Der Titel EL SALVADOR wurde nie als Single veröffentlicht und das dazugehörige Album nicht nachgepresst. Im Veröffentlichungsjahr 1982 schafften es drei Songs des Albums Stundenschlag in die Jahreshitparade der DDR, EL SALVADOR befand sich jedoch nicht darunter. 2008 ist die Live-Version auf einem CD-Sampler namens Die Amiga Hit Collection II unter der Überschrift “Die Live-Hits” enthalten. 2011 ist die Studioversion im Rahmen einer Wiederveröffentlichung der kompletten Amiga-Alben von Stern Meißen erneut auf CD erschienen. Weitere Verwendungen des Liedes sind nicht bekannt.

 

CHRISTOPH OLIVER MAYER


Credits

Komposition: Peter Rasym
Arrangement: Stern Meißen
Text: Kurt Demmler
Tasteninstrumente – Thomas Kurzhals
Perkussion: Norbert Jäger
Schlagzeug: Michael Behm
Bass: Peter Rasym
Gesang: Reinhard Fißler
Gitarre: Uwe Haßbecker
Gitarre: Martin Schreier
Veröffentlichung: 1982
Länge: 4:52 (Albumversion)

Recordings

  • Stern Meißen. “El Salvador”. On: Stundenschlag, 1982, Amiga, 855959, GDR (LP/Album).
  • Stern Meißen. “El Salvador”. On: Rock für den Frieden, 1982, Amiga, 855863, GDR (LP/Comp.).
  • Stern Meißen. “El Salvador”. On: Die Amiga Hit-Collection II, 2008, Sony BMG, 88697276652, DE (3xCD/Comp.).
  • Stern Meissen. “El Salvador”. On: Stern Meissen – Die Original Amiga Alben, 2011, Sechzehnzehn Musikproduktion, BF 06392, DE (7xCD, Box).

References

  • Bernecker, Walther L.: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Stuttgart: Klett-Cotta 1992.
  • Kenzler, Marcus: Der Blick in die andere Welt: Einflüsse Lateinamerikas Auf Die Bildende Kunst Der DDR. Berlin, Münster: LIT 2012.
  • “Kurt Demmler”. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Demmler [13.07.2015].
  • “Rock für den Frieden”. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Rock_für_den_Frieden [27.09.2015].
  • Winkler, Thomas: “Zum Freitod Kurt Demmlers: Ich glaube nicht, dass ein Mensch immer gut ist”. In: Spiegel Online, 3 February 2009. URL: http://www.spiegel.de/panorama/zum-freitod-kurt-demmlers-ich-glaube-nicht-dass-ein-mensch-immer-gut-ist-a-605258.html [30.09.2015].

About the Author

PD Dr. Christoph Oliver Mayer teaches Romance Studies at the TU Dresden.
All contributions by Christoph Oliver Mayer

Citation

Christoph Oliver Mayer: “El Salvador (Stern Meißen)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/elsalvador, 06/2017.

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